Gussrahmen

Ein wesentliches Element des Klavierflügels

Von Theresa Münzenberger

Wo ist die Kunst an unserer Uni? Wo die Musik?

Seit 2003 sind die schallenden Töne nur ganz selten zu hören. Damals wurde im Zuge der Hochschulreform beschlossen, das Institut für Musik der Otto-von-Guericke-Universität zu entziehen. Halle ist um dieses nun reicher, und das alles, obwohl sein Erfolg in Magdeburg Früchte trug. Namhafte Musiker, Opernsängerinnen und Dirigenten sowie zahlreiche Musiklehrerinnen und -lehrer brachte das Institut in der Landeshauptstadt hervor. Der letzte Jahrgang verließ die Universität Magdeburg im Jahr 2009. Seither ist es recht still geworden. Dabei kann Musik doch so viel mehr als nur Luft zum Schwingen bringen. Was wäre wohl ein Albert Einstein ohne seine Geige gewesen? Ohne sie hätte er womöglich niemals die Relativitätstheorie aufstellen können. Kein Grund also, die Musik aus einer Universität zu verbannen, deren Schwerpunkt in der Technik und den Naturwissenschaften liegt. Tatsächlich lassen sich naturwissenschaftliche Forschung und Musik nicht nur miteinander verbinden, sie gehören zusammen. So können die körperlichen Auswirkungen von Musik auf medizinischer Ebene beobachtet, Schallwellen untersucht und auch der Instrumentenbau durch wissenschaftliche Forschung optimiert werden.

Ein Instrumentenelement an der Universität

Ein Objekt weist auf die Beteiligung der Otto-von-Guericke-Universität an wissenschaftlicher Forschung im Instrumentenbau hin. Im linken Eingangsbereich des Gebäude 12 ist ein goldener Gussrahmen zu finden. Genauer gesagt, handelt es sich um einen gegossenen Rahmen für einen Klavierflügel, auf den die Saiten zur Erzeugung des Klangs gespannt werden. Hergestellt wurde er von keinem geringeren als Steinway & Sons. Nicht nur Klaviermusikliebhaber, werden über diesen Namen auf kurz oder lang schon einmal gestolpert sein. Auf einem Steinway Flügel zu spielen, ist der Traum einer jeden Pianistin und eines jeden Pianisten. Nicht ohne Grund füllen diese Instrumente mit ihrem atemberaubenden Klang seit Jahrzehnten tausende Konzerthallen auf der ganzen Welt. Unser Objekt hat seinen Platz am Institut für Fertigungstechnik und Qualitätssicherung der Fakultät für Maschinenbau. Genauso riecht es hier auch. Neben schweren Maschinen erscheint er mit einer Höhe von 155 und einer Breite von 136 Zentimetern in goldenem Glanz wie ein diamantenes Schmuckstück inmitten von Werkzeug. Möglich, dass der Gussrahmen wirklich an diesem Ort hergestellt wurde.

Der Herstellungsprozess

Der Gussrahmen ist neben Rim, Resonanzboden, Klaviatur und Saiten eines der Hauptbestandteile eines Klavierflügels. Dieses Exemplar gehört zu einem Instrument des Modells O der Marke Steinway & Sons, welcher als living room grand bezeichnet wird. Im Gegensatz zu einem klassischen Konzertflügel passt dieses Modell also immer noch gut in ein Wohnzimmer, ohne an Fülle des Klangs einsparen zu müssen. Mit 88 Kilogramm entspricht der Gussrahmen knapp einem Drittel des Gesamtgewichts des grand piano. Jeder Flügel wird aus mehr als 12.000 Einzelteilen zusammengebaut. Diese sind in ihren Beschaffenheiten und Herstellungsverfahren so einzigartig wie die Künstlerin oder der Künstler, die beziehungsweise der ihrem Zusammenwirken später den Klang entlockt. In unterschiedlichen Werkstätten werden die jeweiligen Bauteile in aufwändiger Handarbeit sehr sorgfältig angefertigt, um am Ende in einem der beiden Hauptwerke in New York oder Hamburg in endgültiger Komposition zusammengefügt zu werden. Der Gussrahmen wird in der firmeneigener Gießerei O.S. Kelly in Springfield, Ohio, produziert. Das Herstellungsverfahren nennt sich Schwerkraftgießen in verlorene Formen. Was Anfangs für einen Laien kompliziert klingt, ist wahrlich eine echte Kunst.

Um einen Gussrahmen in Einem gießen zu können, muss im ersten Schritt ein Modell angefertigt werden. Dieses bietet Vorlage für die spätere Gießform. Bei der Erstellung des Dauermodells müssen bereits bestimmte Aspekte, wie Verzug oder Schwindung im Erstarrungsprozess der Schmelze berücksichtigt werden. Meistens ist dieses Modell also etwas größer als der eigentliche Rahmen. Anschließend kann die Form im sogenannten Kaltharzformverfahren hergestellt werden. Dieses Verfahren ist für besonders große Teile wie den Gussrahmen sehr gut geeignet. Dabei wird der Formgrundstoff Quarzsand mit einem Bindemittel vermischt. Bei der Auswahl von Formstoff und Bindersystem sind die jeweiligen Eigenschaften der Bestandteile zu beachten, um möglichen Gussfehlern entgegenzuwirken und eine bestmögliche Qualität des Gießvorgangs zu ermöglichen.

Auch mögliche Wechselwirkungen mit dem späteren Formfüllungsmaterial müssen einkalkuliert werden. Ist das Formmaterial unter allen Berücksichtigungen hergestellt, kann es auf das Dauermodell aufgetragen werden. Dazu werden ein Ober- und ein Unterkasten hergestellt, was die spätere Trennung von Form und erstarrter Füllung vereinfacht. Bei diesem Schritt ist eine saubere und präzise Vorgehensweise wichtig. Es dürfen keine Hohlräume entstehen, um spätere Fehler zu vermeiden. Durch die Wahl eines kaltselbsthärtenden Binders kann das Teil bei Zimmertemperatur aushärten. Nachdem nun die Form für den Gussrahmen vollendet vorliegt, wird sie in das konstruierte Gießsystem integriert. Nun kann das Bauteil im nächsten Arbeitsschritt gegossen werden. Zwar beläuft sich die tatsächliche Gießdauer auf gerade einmal 16 Sekunden, jedoch ist eine detailreiche Vorarbeit nötig, um den Werkstoff seinen späteren Ansprüchen gerecht werdend auszusuchen.

Das Material des späteren Gussrahmens ist Gusseisen mit Lamellengraphit und trägt die genaue Bezeichnung EN-GJL-200. Weltweit ist Gusseisen der meistgegossene Werkstoff und besteht aus verschiedenen Elementen, die gezielte Eigenschaften mit sich bringen. Hauptbestandteil ist Eisen. Kohlenstoff, welcher sich besonders durch gute Fließfähigkeit und Formfüllungsvermögen kennzeichnet, nimmt den zweitgrößten Massenanteil ein. Hinzu kommen Silizium, Kupfer, Nickel und Chrom, welche durch Beimischen gezielt mechanische, physikalische und geißtechnische Eigenschaften mitbringen. Diese Anforderungen an den Formfüllstoff orientieren sich an den Ansprüchen an den Gussrahmen als wichtiges Bauelement des Flügels. Als einziges Teil besitzt der Gussrahmen die Eigenschaft, nicht mitzuschwingen.

Die Struktur des Lamellengraphit hat eine spezifische, große Oberfläche, was die notwendige Schwingungsdämpfung unterstützt. Aufgrund dieser speziellen und wichtigen Eigenschaft von Lamellengraphit wird dieses Material seit jeher für die Herstellung von Gussrahmen für Klavierflügel genutzt. Weiterhin müssen gießtechnische Aspekte wie Viskosität der Schmelze, Oberflächenspannung, Formfüllungsvermögen und Schmelztemperatur beachtet werden. Ist das Formfüllungsmaterial schließlich perfekt zusammengemischt, kann es bei einer Gießtemperatur von circa 1350 Grad Celsius gegossen werden. Anschließend dauert es etwa eine Arbeitsschicht, bis der Gussrahmen erstarrt und ausgekühlt ist. Die Form kann vom Produkt entfernt werden. Nun muss der Gussrahmen auf Qualität geprüft und möglicherweise nachbearbeitet werden. Hier stellt sich heraus, ob die Ausführung der jeweiligen vorangegangenen Arbeitsschritte den Anforderungen gerecht wird. Besonders im Gießvorgang kann es zu Fehlern kommen.

Der häufigste Gussfehler ist der Grat. Da die Form aus Ober- und Unterkasten besteht, kann es vorkommen, dass Schmelze bei keiner absoluten Passgenauigkeit in den Spalt zwischen beiden Teilen gelangt und erstarrt. Dort ist in späteren Schritten eine aufwendige Nachbearbeitung notwendig. Durch ungleichmäßige Abkühlung der Schmelze in der Form kann es außerdem zu Kaltläufen kommen. Das bedeutet, dass noch flüssige Schmelze auf bereits erstarrte trifft. Grund dafür sind zu lange Gießzeiten oder zu geringe Temperaturen. Dies ist anschließend in Form von Kaltschweißstellen zu sehen. Ein weiterer möglicher Gussfehler aufgrund ungenauer Betrachtung von Abkühlungs- und Erstarrungszeiten des Materials ist Verzug. Weil die Schmelze beim Erstarren ihre Dichte erhöht und sich zusammenzieht, muss diese Gestaltabweichung bei der Konstruktion des Modells von vornherein miteingeplant werden. Läuft jedoch alles gut und der Gussrahmen besteht die Qualitätsprüfung, kann das Produkt die Gießerei in Ohio verlassen und an eines der beiden Hauptwerke versendet werden.

Nach einer weiteren Qualitätskontrolle kann dem Gussrahmen nun endlich sein goldener Glanz zuteilwerden. Das Logo des Herstellers wird in sorgfältiger Handarbeit auf den Rahmen gemalt. Alles in Allem beträgt die Herstellung eines Gussrahmens circa zweieinhalb Monate. Die Gussplatte kann in den hölzernen Korpus eingesetzt werden. In nachfolgenden Schritten werden Mechanik eingebaut und die Saiten im Rahmen gespannt. Dabei muss die goldene Platte Zugkräften von bis zu 250 Kilonewton standhalten, was einer Gewichtskraft von etwa 25 Tonnen entspricht. Der Gussrahmen ist ausschlaggebend für einen Klavierflügel. Er trägt die Saiten, welche durch ihre Schwingung den unverkennbaren Klang erzeugen. Nach über einem Jahr aufwändiger und sorgfältiger Detailarbeit ist die Komposition des Flügels vollendet. Er ist das Erzeugnis von liebevoller Handarbeit und Kunstfertigkeit, welche durch jahrhundertelange Tradition in Qualität nie nachgelassen hat. Und jetzt, wo die Kunst des einen Handwerks aufhört, beginnt eine andere an anderer Stelle. Der Handwerker heißt nun Pianist und seine Werkstatt ist der Konzertsaal.

Steinway & Sons und die Universität Magdeburg im harmonischen Zusammenspiel

Obwohl Steinway & Sons schon immer Wert auf hohe und beste Qualität legt, können mögliche Gussfehler nicht vollkommen vermieden werden. Jedoch können Fehler- und Ausschussquote durch bestimmte Maßnahmen reduziert werden. Und genau an diesem Punkt kam die Otto-von-Guericke-Universität ins Spiel. Im Jahr 2012 wendete sich der Gießereiverband telefonisch an Herrn Professor Rüdiger Bähr, Leiter des Bereichs für Ur- und Umformtechnik am Institut für Fertigungstechnik und Qualitätssicherung, Fakultät Maschinenbau der Universität Magdeburg, und unterbreitete ein Anliegen von Steinway & Sons. Der Klavier- und Flügelhersteller kaufte die Gießerei O.S. Kelly in Ohio auf, welche bis dahin als einzig übriggebliebene die Gussplatten zum Flügelbau des Spitzenreiters herstellte. Zwar entsprach die Qualität der eingebauten Gussrahmen für ihre Instrumente der besten, waren Ausschuss- und Nachbearbeitungsquoten dennoch optimierungsbedürftig. So wurde beschlossen, professionelle Ingenieure der Gießtechnik zurate zu ziehen. Diese fand man an keinem geringeren Ort als der Universität Magdeburg. Herr Bähr willigte einer Kooperation mit dem US-amerikanischen Hersteller ein und schlug vor, mit Simulationen zum Gießverfahren zu beginnen, um so den Gießprozess eindeutiger analysieren und folgend optimieren zu können. Solche Simulationen wurden zu eben diesem Zweck in der Kooperation von den Masterstudenten für das Werk in Ohio entwickelt. Da es in den USA keine Gießereifacharbeiter*innenausbildung gibt, wurde die Idee, einen Masterstudenten der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg ins Praktikum in die Gießerei nach Ohio zu schicken, herzlich angenommen.

Früher war das Gießen eine Art künstlerisches Mysterium, über dessen Fähigkeiten nur Fachleute mit jahrelanger Praxiserfahrung verfügten. Grund hierfür war die Unkenntnis über die genauen physikalischen Abläufe im Inneren einer Gießform. Heute kann mithilfe von numerischen Simulationen das Geheimnis sichtbar gemacht werden. Der gesamte Gießprozess kann visuell am Computer dargestellt werden. So kann beispielsweise die Formfüllung unter Berücksichtigung ausschlaggebender Kriterien wie der Wärmeleitung, der Schmelzeviskosität und des Strömungsfeldes genauestens analysiert werden. Sogar die Möglichkeit von Gussfehlern kann durch numerische Simulationen dargestellt und somit frühzeitig erkannt werden. Die Erstellung solcher numerischen Simulationen ist innerhalb der letzten 40 Jahre so präzise und unabdingbar geworden, dass diese Technik aus dem Prozess des Gießereihandwerks nicht mehr wegzudenken ist. Durch das exakte Darstellen des Gießprozesses können Fehler erkannt und behoben werden, bevor sie überhaupt zustande kommen. Dies kann die Ausschuss- und Nachbearbeitungsquote von Gussteilen deutlich senken.

Im Anschluss an die Masterarbeit von Herrn Martin Liepe über eben dieses Thema wurde ein Vortrag darüber auf den deutschen Gießereitagen im Maritim Hotel Magdeburg im April 2016 gehalten. Außerdem fand im November desselben Jahres die CastTec in Darmstadt statt. In einem gemeinsamen Vortrag von Steinway & Sons und Herrn Liepe wurde auch hier über den Einsatz von Simulationen im Gießverfahren gesprochen. Um dem Vortrag eine gewisse Note zu verpassen und auch dem musikfernen Zuhörer die Thematik näherbringen zu können, wurde besprochener Gussrahmen des Modells O als Ausstellungsstück dazu gezogen. Dieser wurde im Jahr 2016 gegossen und war niemals Teil eines Klavierflügels, lediglich Vortragsbegleiter. Nach den Vorträgen durfte der Gussrahmen als Dankeschön und Erinnerungsstück seinen Platz am Institut für Fertigungstechnik und Qualitätssicherung im Gebäude 12 finden, wo er noch immer steht. Insgesamt gingen sechs studentische Arbeiten aus dieser Kooperation hervor. Zwar ist das letzte Praktikum in diesem Rahmen bereits anderthalb Jahre her, jedoch besteht der Kontakt weiterhin. Herr Bähr erhält noch immer einen jährlichen Weihnachtsgruß.

Wo bleibt die Musik?

Man sieht, wenn die Musik an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg schon nicht mehr gelehrt werden kann, so wird sie zumindest durch gewisse Teilhabe am Instrumentenbau gefördert. Für eine Hochschule für Schwermaschinenbau vollkommen gerechtfertigt. Doch die Universität Magdeburg ist gegründet aus der Pädagogischen Hochschule, der Medizinischen Akademie und der Technischen Universität. Darum wird Interdisziplinarität großgeschrieben. Wo aber können die Verbindungen von Naturwissenschaften, Ingenieurswesen und Sozialwissenschaften mit denen der Kulturwissenschaft geknüpft werden, wenn letztere nur sehr eingeschränkt gelehrt werden? Eine Wissenschaft zu lernen und über sie zu lernen, bedeutet nicht nur, sich intensiv mir ihr zu beschäftigen, indem man darüber liest und spricht, sondern indem man sie auch praktiziert. Bildende Künste haben an unserer Universität derzeit keinen Platz in der Lehre. Dies ist nicht nur schade für die Studien im Bereich der Kulturwissenschaften, auch Magdeburg als potenzielle Kulturhauptstadt Europas in 2025 würde dadurch sicherlich nur profitieren.

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